Leipziger Thesen

1.
Die Bundesrepublik Deutschland hat in den 60 Jahren ihres Bestehens eine intensive und schmerzhafte Erinnerungsarbeit geleistet. Dieser Akt historischer Aufklärung ist beispielhaft. Die politische und moralische Schande des Nationalsozialismus wurde allen sichtbar gemacht. Auch in Zukunft dürfen die Verbrechen nationalsozialistischer Herrschaft nicht relativiert und die des Kommunismus nicht bagatellisiert werden. Beide totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind in ihrer historischen Einzigartigkeit weiter zu erforschen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse bilden im 21. Jahrhundert nicht nur in Deutschland entscheidende Elemente eines aufgeklärten politischen Bewusstseins.

2.
Gesellschaftlicher Reformwille ist stets einer Erinnerungsfähigkeit verpflichtet, die davon ausgeht, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können. Das Jubiläumsjahr 2009 verdeutlicht, dass sowohl Grundgesetz als auch Friedliche Revolution zu den großen historischen Erinnerungen der Deutschen zählen und wesentliche Bestandteile des gemeinsamen politischen Bewusstseins unserer demokratischen Grundordnung sind.

3.
Im Zyklus der mittelosteuropäischen Revolutionen der Jahre zwischen 1989 und 1991 brach ein totalitäres Weltsystem zusammen. Mit der Überwindung der Teilung der Welt entstand eine neue Weltordnung mit ganz eigenen Problemen. Die Revolutionen in Ostmitteleuropa verhalfen der Demokratie im europäischen Maßstab zum Durchbruch. Die Erinnerung an diese demokratischen Revolutionen bleibt eine gesamtdeutsche Aufgabe und bildet zugleich einen wesentlichen Baustein des im Werden begriffenen europäischen Geschichtsbewusstseins.

4.
Die friedliche Demonstration von 70.000 Menschen aus Leipzig und aus allen Teilen der DDR am 9. Oktober 1989 brachte die Entscheidung. Die SED-Diktatur unterlag dem Willen freier und mutiger Menschen. Damit besitzt Leipzig eine herausragende Bedeutung für den Durchbruch der Friedlichen Revolution. Es ist ein Symbol für revolutionäres Handeln in einer Vielzahl anderer Städte und Gemeinden, wie Ost-Berlin, Dresden oder Plauen. An diesen Orten zeigten sich der gleiche Mut und die gleiche Entschlossenheit auch staatlicher Gewaltanwendung zu trotzen. Der urdemokratische Ruf „Wir sind das Volk!“ war überall zu hören. In ihrer Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit erzwangen diese Demonstrationen die Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989.

5.
Die Friedliche Revolution ist die erste gelungene und gewaltfreie Revolution in der deutschen Geschichte. Es war eine Bewegung vieler Unbekannter, vieler Namenloser und einfacher Menschen. Es war ein Aufstand von unten, geboren aus dem Willen, diktatorische Herrschaft nicht länger zu ertragen, und getragen von der Absicht, sein Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Diese demokratische Revolution brauchte keine Prominente, keine Avantgarde und keine Alleskönner, die anderen den Weg weisen.

6.
Am 9. Oktober 1989 in Leipzig und am 9. November in Ost-Berlin schrieben die ostdeutschen Bürger und nicht die Diktatoren und ihre Mitläufer Geschichte. Es war ein einmaliger Vorgang in der deutschen Geschichte, dass sich die Bevölkerung als Gemeinschaft mündiger Bürger mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ erfolgreich zum Souverän ermächtigte. Die Ostdeutschen machten ihr Bekenntnis zu Demokratie und Gewaltlosigkeit zu „Siegern der Geschichte“. Eine weitgehend gewaltfreie Freiheitsrevolution brachte die kommunistische Diktatur zu Fall und ermöglichte die deutsche Wiedervereinigung.

7.
Erstmals in ihrer Geschichte leben alle Deutschen tatsächlich in Einheit und Freiheit. Sie haben sich nicht gegen ihre Nachbarn, sondern mit deren Zustimmung staatlich zusammengeschlossen. Der deutsche Nationalstaat ist unwiderruflich in die freiheitliche Wertewelt des Westens eingebunden. Das wird auch künftig wesentlich zur weiteren Entwicklung der europäischen Einheit beitragen.

8.
Wir feiern in diesem Jahr in Ost und in West 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre Friedliche Revolution. Diese historischen Daten verweisen aufeinander und begründen für das 21. Jahrhundert eine gemeinsame Geschichte aller Deutschen. Der grundlegende Bezug des Grundgesetzes auf die Würde des Menschen entspricht den Forderungen der Bürgerbewegung im deutschen Herbst 1989. Dazu gehören politische Freiheit des Einzelnen, aber auch die allgemeine Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, das Recht auf freie und geheime Wahlen sowie die Mitwirkung von Parteien an der politischen Willensbildung.

9.
Das lebendige, gesamtgesellschaftliche Bewusstsein des 1989/90 Erreichten verbunden mit dem Stolz auf diese historische Leistung steht seit der Wiedervereinigung im Zentrum des Nationalbewusstseins der Bundesrepublik. Die Formel „40 + 20 = 60 Jahre Bundesrepublik“ fasst diese zwei wesentlichen Ereignisse der deutschen Nationalgeschichte zusammen und begründet damit politische Identität für alle Deutschen. Gleichzeitig ist sie ein besonderer deutscher Beitrag zur europäischen Vereinigung, die ohne die Revolutionen in ganz Mittelosteuropa mit ihrem Durchbruch zur Demokratie nicht möglich wäre.

10.
Aber auch das muss gesagt werden: 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution ist der Stolz der Ostdeutschen auf ihren Sieg über die Diktatur heute weitgehend verschüttet. Es gilt, ihn neu zu beleben und mit zeitgemäßen Inhalten zu füllen. So könnte er als Gegenmittel zur unwahrhaftigen Vergangenheitsverhaftung und grassierenden Demokratieverdrossenheit wirken. Dieser Geist der Zivilcourage wäre zudem ein Mittel gegen die sich angesichts wachsender sozialer Unterschiede und religiöser Fanatismen immer mehr ausbreitende „Zuschauerdemokratie“. Das Ziel muss demokratische Mündigkeit, Mut, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Engagement für das Gemeinwohl sein, die nicht nur unter der scheinbar ausweglosen Situation in einer Diktatur ihre Berechtigung besitzen. Für jede Demokratie sind mündige, freie und kritische Bürger eine Grundbedingung ihrer politischen Existenz.

11.
Die geschichtliche Kraft zur Erinnerung lebt von ihrer Vergegenwärtigung. Um die Verbindung zwischen 1989 und 2009 vielen Menschen vertraut zu machen, benötigen wir in Deutschland ein breites und vielfältiges Engagement für die Demokratie und eine aktive Erinnerungskultur. Nur durch den alltäglichen Umgang jedes Einzelnen mit den Werten Freiheit in Verantwortung, Erinnern und Gestalten, Solidarität, individuelle Entwicklung und Verpflichtung auf das Allgemeinwohl werden die Deutschen dem Erbe der Friedlichen Revolution und ihrem Grundgesetz gerecht. Dies im öffentlichen Bewusstsein einer demokratischen Öffentlichkeit zu verankern stärkt die Bundesrepublik. Die historische Erinnerung ist ein Mandat für Handeln in Gegenwart und Zukunft.

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