Harald Ringstorff

In der vergangenen Woche haben wir in Schwerin den Tag der deutschen Einheit gefeiert.

Hunderttausende von Menschen - Groß und Klein, Alt und Jung, Ost und West, feierten ein fröhliches Fest. Viele Menschen haben sich mit großem Einsatz und vielen Ideen an diesem Fest beteiligt. Sie haben gemeinsam zum Erfolg beigetragen.

Der dritte Oktober ist der Tag der Bürgerinnen und Bürger.

Was für den 3. Oktober gilt, gilt für den 9. Oktober erst recht.

In Leipzig ist vor 18 Jahren, am 9. Oktober 1989, etwas Besonderes geschehen. Über 70.000 Menschen waren damals vor dieser Kirche zum gewaltlosen Protest zusammengekommen und erreichten etwas, was kaum jemand für möglich gehalten hatte: Sie zwangen die damalige Staatsführung in die Knie.

Horst Sindermann, ehemaliges Mitglied des Zentralkomitee der SED, sagte kurz vor seinem Tod: „Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“

Wie wir heute wissen, hatten damals schon seit einiger Zeit die staatlichen Behörden ihren Druck massiv verstärkt, die Friedensgebete abzusetzen oder wenigstens von der Nikolaikirche an den Stadtrand zu verlegen. Montag für Montag hatte es Verhaftungen im Zusammenhang mit den Friedensgebeten gegeben. Dennoch war ein steigender Andrang der Besucher zu verzeichnen, bis die 2.000 Plätze in dieser Kirche nicht mehr ausreichten.

Am 9. Oktober dann ein Szenario von Armee und Kampfgruppen, Polizei und Stasileuten in Zivil. Aber der Auftakt war bereits am 7. Oktober erfolgt, dem 40. Jahrestag der DDR. An diesem Tag schlugen stundenlang Uniformierte auf sich nicht wehrende Menschen ein, transportierten sie ab in Lastwagen. In der Zeitung war ein Artikel erschienen, dass nun endlich Schluss sein müsse mit der “Konterrevolution“, „wenn es sein muss, mit der Waffe.“ Das heizte die Stimmung noch zusätzlich an.

So sah es dann am 9. Oktober auch aus. Es waren hunderte SED-Genossen in die Nikolaikirche beordert worden. Man konnte sie leicht erkennen, da sie nicht mitgesungen haben. Die Menschen ließen sich von der SED nicht einschüchtern - ganz im Gegenteil. Sie spürten eine Kraft, die vor allem aus Gemeinsamkeit, aus Gemeinschaft, entsteht. Die Nikolaikirche, die Kirchen insgesamt waren in der DDR Schutzburgen, sie waren besondere Orte des Friedens und der Hoffung für viele Menschen.

Auch ich selbst erinnere mich noch gut an die Wendezeit. Wir Nordlichter waren bekanntlich etwas später dran als die Leipziger, die einen besonderen Mut in der Anfangsphase der Proteste gezeigt hatten. Zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter hatte ich Anfang November 1989 den Rostocker Ableger der SPD in der DDR, die „SDP“, gegründet. Mit einer russischen Kreissäge hatte ich die Latten geschnitten, an denen bei den Montagsdemos dann die Schilder mit der Aufschrift hochgehalten wurden: „ Nächste Wahlen mit uns - SDP.“ Natürlich hatten auch wir Angst, schließlich konnte keiner wissen, ob die Machthaber nicht doch mit Gewalt reagieren würden. Doch überall, auch in Rostock, wuchs die Zahl der Menschen, die gegen das System protestierten, weiter an. Besonderen Auftrieb erhielten wir Rostocker Sozialdemokraten durch den Besuch Willy Brandts Anfang Dezember 1989 in der Rostocker Marienkirche. Er sprach vor Tausenden von Zuhörern. Das war ein Ereignis, das ich bis heute in besonderer Erinnerung behalten habe.

Bei den Montagsdemos hatten wir das Gefühl, wir sind stark und wir sind viele. Ein solches Gemeinschaftsgefühl hatte ich bis dahin nicht so erlebt. Es erfasste auch Menschen, die nicht religiös waren. Wir spürten damals ganz klar: Gemeinschaft gibt Kraft und Mut. Daraus entstand ein neues Selbstbewusstein.

 

Meine Damen und Herren,

„wir sind das Volk“, mit diesem selbstbewussten Ruf forderten wir damals demokratische Grundrechte in der untergehenden DDR ein. Nicht wenige von denen, deren aufrechter Gang damals die Wende ermöglichte, wollten eine andere, eine bessere, vor allem eine demokratische DDR. Doch sie wurden durch die Wucht der Ereignisse überrannt.

Wir sind das Volk. Das gilt auch heute! Heute braucht es für dieses Bekenntnis keinen Mut. Vielmehr die gelegentliche Rückbesinnung darauf, dass Demokratie nur so gut oder so schlecht ist, wie wir - das Volk - sie machen. Demokratie lebt überall dort, wo Menschen sich mit verantwortlich fühlen. Demokratie lebt vom Mitmachen.

Meinem Eindruck nach flammt dieses Gefühl „Wir sind das Volk“ gelegentlich im Alltag immer mal wieder auf, vor allem wenn Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, die Politiker hätten „irgendwie abgehoben“. Bei vielen ist die Erwartungshaltung gegenüber dem Staat immer noch sehr hoch. Doch, meine Damen und Herren, in einer Demokratie ist nicht nur die Regierung den Bürgerinnen und Bürgern verantwortlich, die Bürgerinnen und Bürger sind auch für sich selbst verantwortlich. Zugleich haben sie eine Verantwortung für die Gemeinschaft.

Doch manchmal habe ich den Eindruck, dass das viele Bürgerinnen und Bürger im Alltag vergessen. Viele beschränken sich darauf, den Politikern allabendlich individuell Haltungsnoten von ihrem Wohnzimmersofa aus zu erteilen, ausgerüstet mit der Fernsteuerung ihres Fernsehers, indem sie einfach ab- oder umschalten. Dazu haben sie ein gutes Recht, aber das allein reicht nicht. Demokratie verlangt mehr und hat auch mehr verdient.

Das Bekenntnis zur Demokratie setzt die Auseinandersetzung mit der Diktatur voraus. Es ist wahr, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Aber es ist ebenso wahr, dass die Geschichte der Boden für die Gegenwart ist und dass der Umgang mit der Vergangenheit zum Fundament für die Zukunft wird.

Inzwischen ist auch im Osten Deutschlands eine Generation herangewachsen, für die Demokratie und Freiheit etwas Selbstverständliches sind. Doch Demokratie und Freiheit sind kein Zustand, sondern müssen immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden. Das macht Demokratie so anstrengend. Aber auch besser als alle anderen Staatsformen. Denn in welcher Staatsform könnten Konflikte friedlicher gelöst werden als in der Demokratie? Die Bürgerinnen und Bürger von uns, die eine Diktatur erlebt haben, wissen: In keiner!

Das immer wieder - gerade auch der Jugend - deutlich zu machen, das ist unser aller Aufgabe. Denn die jungen Menschen kennen inzwischen die DDR nicht mehr aus eigenem Erleben. Diesen Kindern und Jugendlichen gegenüber haben wir Älteren eine besondere Verpflichtung: Wir dürfen, trotz aller Widrigkeiten heute, in der Rückschau das Leben in der DDR nicht verklären. Wir müssen ihnen die ganze Wahrheit über die DDR erzählen, um sie stark zu machen gegen jede Form der Diktatur - ob von links oder rechts.

In der DDR gab es keine Meinungsfreiheit. Die DDR erkaufte sich Bevormundung und Unterwerfung mit sozialer Fürsorge. Versorgt zu sein von der Wiege bis zur Bahre, das war für die meisten selbstverständlich. Das Verständnis von Freiheit verkehrte sich demzufolge bei vielen Bürgerinnen und Bürgern ins Gegenteil. Freiheit wurde nicht mehr als Aufforderung zu selbstbestimmtem Handeln verstanden, sondern als Freiheit von Verantwortung – wir sprachen auch von der „organisierten Verantwortungslosigkeit“ - was nach 1989 zu großen Orientierungsproblemen bei vielen ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürgern führte. Denn der Umgang mit Freiheit muss gelernt sein, sonst wird die Freiheit nicht zur Lust sondern zur Last. Schnell erscheint dann die Vergangenheit rosiger als sie war.

Tatsache ist: Die DDR war 1989 ökonomisch völlig am Ende. Alles andere ist ein Mythos. Viele Menschen hatten das auch schon seit längerem gespürt. Der nach der Wende bekannt gewordene Schürer-Bericht zur ökonomischen Lage der DDR vom Oktober 1989 bestätigte das. Die sozialen Wohltaten wären nicht länger finanzierbar gewesen. Wörtlich heißt es: “Die Feststellung, dass wir über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, hält jedoch einer strengen Prüfung nicht stand.“ Weiter heißt es an anderer Stelle: “Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40% hinter der BRD zurück.“ Wörtlich heißt es auch, ich zitiere: „Die Konsequenzen der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit wäre eine Umschuldung, bei der der internationale Währungsfonds bestimmen würde, was in der DDR zu geschehen hat.“

Die DDR ist am Ende also vor allem an sich selbst zu Grunde gegangen - an der Unfreiheit und der Bevormundung, aber auch an der katastrophalen wirtschaftlichen Lage.

 

Meine Damen und Herren,

wir brauchen die Aufklärung gerade auch der Jugend, um einer nachträglichen Verklärung des SED-Regimes oder schönfärberischer DDR-Nostalgie den Boden zu entziehen und uns vor neuen Fehlern zu schützen. Wir Älteren müssen den jungen Menschen sagen, dass neben unseren vielleicht schönen privaten Erinnerungen zum Leben in der DDR auch die Verfolgung politisch Andersdenkender, Zwangsenteignungen und die autoritäre Alleinherrschaft der SED gehörten. Genauso wie Spitzeltum, Gängelei und der offiziellen Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze, der den Gebrauch der Schusswaffe gegenüber Frauen und Kindern mit einschloss. Die SED produzierte das, was jede Diktatur brauchte: Die Angst der Menschen.

Viele Menschen haben aus Angst die offene Auseinandersetzung mit den Herrschenden vermieden - aus Sorge um ihre und ihrer Kinder Existenz. Das kann ich nachvollziehen. Wir lebten mit einer Schere im Kopf, überlegten genau, wo wir was erzählten. Die meisten schufen sich ihre privaten Nischen. Das enthebt uns aber nicht der Verantwortung, vergangenes Unrecht in der DDR beim Namen zu nennen. Nie dürfen wir den Mantel des Schweigens darüber decken. Schon gar nicht an einem Tag wie heute.

In der DDR gab es immer wieder Einzelne oder auch Gruppen, die den Mut besaßen, sich gegen politische Bevormundung, Unrecht und Unterdrückung zur Wehr zu setzen, darunter viele junge Leute. Einige waren dafür bereit, Nachteile in Kauf zu nehmen, andere gingen für ihren Mut und ihren Willen zur Freiheit ins Gefängnis, oder bezahlten dafür gar mit dem Leben. Es war die DDR-Staatsmacht selbst, die durch die Art des Umgangs mit den Menschen ihre eigenen Gegner hervorbrachte.

Bei uns im Norden war es Anfang der 50er Jahre zum Beispiel Arno Esch, der am Aufbau einer als illegal angesehenen Jugendorganisation beteiligt war, ein anderer, Karl Alfred Gedowsky, hatte sich in Westberlin verbotene Literatur besorgt und sie in Rostock an Studenten verteilt. Beide wurden für ihre Taten mit dem Tode bestraft. In seinem Schlusswort vor Gericht erklärte der damals erst fünfundzwanzigjährige Gedowski: „Wir wollten den Studenten zeigen,(...) dass es neben dem historischen und dem dialektischen Materialismus noch andere Weltanschauungen gibt. Um sich für eine Weltanschauung zu entscheiden, muss man auch die andere kennen.“

Heute, meine Damen und Herren, erscheint uns das selbstverständlich. Damals war es das nicht. Diese Menschen damals konnten nicht viel ändern, doch hinterlassen sie uns ein Vermächtnis, das in die Gegenwart und Zukunft reicht. Es geht darum, sich als Bürger zuständig zu fühlen, für das, was in unserem Land passiert. Es geht darum, Freiheit aktiv zu verteidigen gegen ihre Feinde. Es darf nie wieder dazu kommen, dass sich eine schweigende Mehrheit nicht zuständig fühlt für das, was in unserem Land passiert. Es reicht nicht, Unrecht schweigend zu missbilligen. Der ehemalige Bundestagspräsident Thierse hat Recht, wenn er sagt: „Demokratie lebt nicht von innerer Haltung , sondern von überzeugtem Handeln“. Demokratie - das ist eine Wertegemeinschaft. Demokratie braucht Bürgerinnen und Bürger, die diese Werte auch verteidigen.

Es geht darum, sich offen im Alltag zu den Werten der Demokratie zu bekennen und den leisesten Anfängen von Menschverachtung, Rechtsbruch und Unfreiheit entschieden entgegen zu treten. Ob Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit oder Ausgrenzung von Mitmenschen, die einfach nur anders sind als wir selbst, sagen wir laut und vornehmlich „nein“ überall dort, wo es notwendig ist. Inge Scholl, die Schwester von Hans und Sophie Scholl, die von den Nazis hingerichtet wurden, schreibt in ihrem Bericht „Die weiße Rose“, ich zitiere: „Vielleicht liegt darin das wirkliche Heldentum, beharrlich gerade das Alltägliche, Kleine und Naheliegende zu verteidigen, nachdem allzu viel von großen Dingen geredet worden ist.“

Die Verteidigung des Rechts und der Freiheit des Einzelnen auf ein freies Leben ist also für jeden von uns Verpflichtung, damit es nie wieder dazu kommt, dass Menschen für die Verteidigung einfacher Freiheitsrechte ihr Leben lassen müssen.

 

Meine Damen und Herren,

in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst, in der Probleme schon lange nicht mehr an Grenzen halt machen und alles immer komplizierter, schneller zu werden scheint, wächst die Sehnsucht der Menschen nach Überschaubarkeit und nach verständlicher, verlässlicher Politik.

Die Demokratie als Staatsform wird zwar von einer Mehrheit als gute Staatsform angesehen, aber mit ihrem Funktionieren sind weit weniger Menschen zufrieden, wie Umfragen belegen. Sie wird als mühsam und in ihren Entscheidungsprozessen als zu langwierig wahrgenommen. Sie befördert den Kompromiss, weniger jedoch klare Entscheidungen. Den demokratischen Parteien wird Problemlösungskompetenz abgesprochen. Das demokratische System der Bundesrepublik stößt insbesondere bei jungen Menschen aus Ostdeutschland auf Skepsis. Das sind sicherlich unangenehme Befunde, aber denen müssen wir uns stellen.

Dazu gehört auch, dass wir die unbequemen Fragen und Sorgen der Menschen, z.B. vor der Globalisierung und möglicher Arbeitsplatzverluste, ernst nehmen. Sonst überlassen wir denen das Feld, die auf diese berechtigten Fragen ganz andere, aber scheinbar konkrete Antworten geben.

Wir erleben heute, 60 Jahre nach Kriegsende, dass gerade in den neuen Bundesländern Neonazis Wahlerfolge feiern und sogar in einigen Landesparlamenten vertreten sind. Als Demokraten muss uns das Anlass zur Sorge geben, gerade auch vor dem Hintergrund, dass der Rechtsextremismus sein Erscheinungsbild zunehmend verändert und schwerer erkennbar ist. Das ist gefährlich. Nach außen hin versuchen die neuen Nazis eine schöne Fassade aufzubauen. Sie greifen lokale Probleme auf und tarnen sich in Initiativen für schöneres und sicheres Wohnen. Sie fordern mehr Spielplätze, veranstalten Kinderfeste und verteilen Luftballons und Süßigkeiten. Sie bewerben sich als Elternvertreter in der Schule, bieten Rechtsberatung oder geben Schülerinnen und Schülern Nachhilfe.

Neuere Untersuchungen belegen: Rechtsradikale und fremdenfeindliche Einstellungen sind keinesfalls gesellschaftliche Randerscheinungen und sie beschränken sich auch nicht vorrangig auf den Osten der Republik. Der moderne Rechtsextremismus in Deutschland organisiert sich vielmehr inmitten unserer Gesellschaft. Dabei zeigt die Rekrutierung rechtsextremistischen Nachwuchses vor allem da Erfolg, wo es an sozialer Infrastruktur mangelt. Auch haben die Akteure dazugelernt: Nach Jahrzehnten interner Zerstrittenheit vernetzen sie sich untereinander. Die neuen Nazis setzen langfristig auf die Eroberung der Straßen, versuchen aber gegenwärtig zum Beispiel im Rahmen der Proteste gegen Hartz IV ihr Süppchen zu kochen und stoßen immer mehr in kommunale Lebenswelten vor.

 

Meine Damen und Herren

wir sind uns bewusst: Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland hält nichts von den neuen Nazis. Und das völlig zu Recht! Dennoch müssen wir die Wahlergebnisse der Rechtsextremen und vor allem die Ängste der Menschen, die bei der letzten Landtagswahl NPD gewählt haben, sehr ernst nehmen und uns damit auseinandersetzen. Nur in der inhaltlichen Auseinandersetzung können wir Demokraten sie stellen. Es geht darum, deutlich zu machen, dass die Rechtsextremen zwar schon immer auf alles scheinbar einfache Antworten hatten, aber noch nie Lösungen. Aber vor allem müssen wir uns bewusst sein: Diese Partei steht in der Tradition der Mörder von Millionen Menschen im Nationalsozialismus.

Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus haben in Deutschland keinen Platz – das müssen wir unseren Kindern, den Jugendlichen und auch den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern eindringlich vermitteln - in der Familie und im Freundeskreis, in den Bildungseinrichtungen, in den Vereinen und Verbänden, in den Kirchen. Wir dürfen diese Herausforderung dabei auf keinen Fall nur als „Kampf gegen Rechts“ betrachten - es geht vielmehr um einen konstruktiven Streit für mehr Demokratie und Toleranz. Zugleich müssen wir uns bewusst sein, überall dort, wo die Demokraten Lücken lassen, stoßen die Rechtsextremisten hinein. Diese Lücken können die Parteien nicht allein füllen. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe - also Aufgabe eines jeden von uns, zumal die großen Volksparteien in Ostdeutschland weit weniger Mitglieder haben als in den alten Bundesländern. Alle sind gefordert – Familie, Schule, Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Vereine, Verbände und auch die Medien. Der Journalist Toralf Staud stellt zu Recht fest: „Der wirkliche Kampf gegen die NPD muss in der Gesellschaft und von der Gesellschaft geführt werden, in Städten und Dörfern, auf Schulhöfen und an Buswartehäuschen. Wenn sich dort niemand für Demokratie und Menschenrechte einsetzt, haben die Rechtsextremisten schon gewonnen.“

Als Demokraten müssen wir also vor allem die politische Auseinandersetzung mit den Rechtsextremen suchen. Wegschauen, ignorieren, schweigen - all das dürfen Demokraten nicht!

Zur Auseinandersetzung mit den Rechtsextremisten und ihren Parolen gibt es keine Alternative. Mit einem Verbot der Rechtsextremisten wäre das Problem nicht beseitigt. Das stimmt. Aber immer mehr Menschen können es nicht verstehen, warum wir Steuergelder dafür ausgeben müssen, dass die Nazis Neid, Hass, Verachtung und Rassismus säen dürfen. Als Demokraten finanzieren wir eine Partei, die sich klar und deutlich zur Abschaffung der Demokratie bekennt. Ich bin deshalb dafür, die NPD als verfassungsfeindliche Partei zu verbieten. Deshalb wird MV ein Verbotsverfahren eingehend prüfen.

 

Meine Damen und Herren,

wir haben 1989 die Freiheit erkämpft, aber nicht um heute neuen Rattenfängern auf den Leim zu gehen, die uns die Verantwortung für unser Leben wieder abnehmen wollen.

Nie wieder möchte ich von staatlicher Seite den Satz hören: „Das müssen sie schon uns überlassen“.

Nie wieder möchte ich staatlicher Willkür ausgesetzt sein und mich so machtlos fühlen wie in der DDR.

Deshalb sage ich heute vor dem Hintergrund der Erfahrungen von über 40 Jahren Diktatur und nun fast 20 Jahren erlebter Demokratie:

Hat sich die Demokratie auch als anstrengend erwiesen, so ist sie doch unseren ganzen Einsatz wert. Denn sie ist und bleibt die einzige menschenwürdige Alternative zu jeglicher Art von Diktatur, mag diese sich auch noch so menschenfreundlich, gerecht oder missbräuchlich religiös dekorieren.

Aus der Geschichte zweier Diktaturen haben wir die Verantwortung, heute gegen Unrecht und Unmenschlichkeit zu kämpfen, wo immer sie sich zeigen. Dazu kann jeder seinen Beitrag leisten! Und wir haben die Aufgabe, unserer jungen Generation diese Verantwortung als ihre eigene Verantwortung zu vermitteln. 

Der unter anderem von Prof. Kurt Masur und Pastor Christian Führer unterzeichnete „Ruf aus Leipzig“, mit dem im Jahre 2009 an die Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor 60 Jahren und der 20. Wiederkehr der friedlichen Revolution gedacht werden soll, versteht sich dazu als ein Beitrag.

 

Meine Damen und Herren,

wir verneigen uns heute vor allen Menschen, die in der Geschichte Deutschlands für Freiheit und Demokratie eingestanden sind.

Wir verneigen uns heute vor denen, deren Mut und aufrechter Gang uns 1989 die Freiheit brachte.

Freiheit ist anstrengend. Freiheit bedeutet Risiko.

Aber ohne Freiheit ist alles andere nichts. Vergessen wir das nie.

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