Martin Schulz:

Martin Schulz hält die Rede zur Demokratie © Stadt Leipzig / Jens Schlüter
Martin Schulz hält die Rede zur Demokratie © Stadt Leipzig / Jens Schlüter

Sehr geehrte Damen und Herren,

Verehrter Herr Oberbürgermeister Jung,

Verehrter Herr Hollitzer,

Lieber Herr Dündar,

Gerade eben haben wir alle zusammen im Friedensgebet zum siebenundzwanzigsten Mal an die friedliche Revolution des Jahres 1989 zurückgedacht. Wir haben uns zusammen daran erinnert was hier in Leipzig vor siebenundzwanzig Jahren geschah.

Und bevor ich nun die ehrenvolle Aufgabe angehe die diesjährige Rede zur Demokratie zu halten, möchte ich sie einladen mit mir darüber nachzudenken, was diese Rede in diesem Jahr von den vielen vergangenen Reden zu diesem Gedenktag unterscheidet.

Es ist der dramatische Zeitkontext des Jahres 2016 vor welchem diese Rede heute stattfindet:

  • In diesem Jahr stieg die Zahl der Anschläge mit ausländerfeindlichem Hintergrund in Deutschland auf ein Rekordhoch.
  • Die freie Presse wird offen als Lügenpresse verunglimpft und Journalisten, die beispielsweise von den Pegida-Demonstrationen berichten wollten, werden angegriffen.
  • Gotteshäuser werden Ziele von Brand- und Sprengstoffanschlägen.
  • Die Fahrzeuge unserer Ordnungshüter werden über Nacht in Brand gesteckt.
  • Vom Landrat bis zum Bundespräsidenten werden demokratische Volksvertreter angepöbelt und attackiert.
  • Und nach einer monatelangen Hetzkampagne hat zum ersten Mal ein Mitgliedsstaat entschieden aus der EU auszutreten.

Wir erleben unbestreitbar einen gesellschaftlichen Härtetest. Immer aggressiver werden Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, und es scheint sich eine Gruppe von Menschen zum Ziel gesetzt zu haben, die Demokratie in Europa und in Deutschland lächerlich zu machen oder sie gar abzuwickeln.

Ich frage mich manchmal, warum nicht ein lauterer Schrei der Empörung durch unsere Gesellschaft hallt, wenn sich diese Gruppen anmaßen, unser gesamtes Volk zu vertreten. Sie, liebe Leipzigerinnen und Leipziger, sie alle wissen, dass die Parole „Wir sind das Volk“ nicht für Hetze, Nationalismus und Nabelschau steht, sondern für Öffnung der Grenzen, für Solidarität, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

Sie alle erinnern sich sicher noch an die gewaltigen Erfahrungen des Jahres 1989, die damals in dem Satz „Wir sind das Volk“ konzentriert wurden. Und vor dem aktuellen Zeitkontext erscheint es mir besonders wichtig diese Erfahrungen noch einmal in Erinnerung zu rufen:

Vor siebenundzwanzig Jahren - ja vor nur siebenundzwanzig Jahren - da war Deutschland noch ein geteiltes Land. Es war ein Land, durch das eine Mauer verlief. Ein Land zerrissen durch den Kalten Krieg. Ein Land in dem zwei verschiedene Welten existierten. Was uns gemein war, war das wir die Kinder eines Landes waren, welches sich der schlimmsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte schuldig gemacht hatte. Dies war uns gemeinsam in Ost und West, und auch der Auftrag den wir dadurch erhielten. Wir wollten bessere Gesellschaften bauen. Gesellschaften die die Verbrechen des zweiten Weltkriegs zukünftig unmöglich machen mussten. Gesellschaften, die auf starken Werten basieren, den Werten der Freiheit, der Toleranz, der Gleichheit und der Rechtstaatlichkeit. Das wünschten sich die Deutschen im Westen, und davon träumten auch die Deutschen im Osten. Die Wege waren jedoch grundverschieden.

Im Westen empfing die Bundesrepublik ein Geschenk unermesslichen Werts: Nur wenige Jahre nachdem Belgien mit deutschen Panzern überrollt, nur wenige Jahre nachdem Frankreich zum zweiten Mal überfallen worden war, nur wenige Jahre nachdem Nazideutschland die Niederlande und Luxemburg besetzt hatte, und nur wenige Jahre nach all den damit verbundenen Gräueltaten, da entschieden sich unsere Nachbarn uns in einer großen Geste der Versöhnung die Hand zu reichen. Große Staatsmänner wie Schuman, De Gasperi oder Spaak erkannten, dass Frieden in Europa nur dauerhaft möglich sei, wenn Deutschland mit aufrechtem Gang und als demokratischem Staat die Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft ermöglicht würde.

Diese Visionäre hatten erkannt: Ohne ein demokratisches Deutschland in einem demokratischen Europa, kann Frieden auf unserem Kontinent nicht garantiert werden.

Und diese Erkenntnis setzten diese großen europäischen Staatsmänner in mutigen politischen Entscheidungen um und dies auch oft gegen das Aufbegehren der eigenen Bevölkerung. So ermöglichten sie Adenauer und Brandt in Würde ein Land aufzubauen, welches seinen Platz am Tisch einer europäischen Gemeinschaft aus ursprünglich sechs Staaten finden konnte. Die Bundesrepublik wurde Teil einer Gemeinschaft in der Staaten Souveränität aufgaben um ihren Bürgern eine bessere, eine friedliche Zukunft zu gewährleisten.

Im Osten galt eine andere Philosophie: anstatt Souveränität abzugeben, sollte der Staat als alleiniger Souverän das Wohlergehen der Bürger garantieren. Dabei gab es ohne Zweifel auch Idealismus in der Gründergeneration. Doch wie Sie alle wissen war vieles Illusion. Eine kleine Gruppe monopolisierte die Macht. Bürgerrechte wurden auf extremste Weise beschnitten. Die Massenüberwachungsmaschine der Staatssicherheit verfügte über Akten von mehr als einem Drittel der sechzehn Millionen DDR Bürger. Bei Flucht gab es den Schießbefehl. Allein an der Berliner Mauer starben mehr als einhundert Menschen.

Und dann kam Leipzig.

In Leipzig begannen die Menschen die DDR zu hinterfragen. Was die Leipziger forderten war die Freiheit ihre Meinung zu äußern, es war das Verlangen nach fairen Wahlen, nach Reisefreiheit, und auch nach einer sauberen Umwelt. In Leipzig wurde erkannt, dass die SED-Regierung diese Rechte nicht garantierte, sondern sie aktiv verwehrte. In Leipzig formierte sich der Protest gegen diese Diktatur, erst leise, dann lauter. Erst zu Hunderten, dann zu Tausenden und schließlich zu Hundertausenden.

Denn als am 9. Oktober 70,000 Menschen hier auf dem Nikolaiplatz zusammenkamen hätte alles passieren können. Das Damoklesschwert einer „chinesischen Lösung“ hing an einem seidenen Faden über den Protestierenden. Doch sie kamen. Und sie kamen vielzähliger als je zuvor. Sie kamen selbstbewusster als je zuvor. Noch lauter hallte der Ruf „wir sind das Volk“, noch lauter hallte der Ruf „wir bleiben“ und vielleicht am lautesten hallte der Ruf „Demokratie - jetzt oder nie“. Keine Schuss fiel, kein Panzer rollte, kein Tropfen Blut floss. „Keine Gewalt“ riefen die Menschen, und ihr Wort wurde Gesetz.

Diese Menschen reklamierten zurecht den Satz „wir sind das Volk“ für sich, und nicht diejenigen, die unter Missbrauch dieses großen Satzes heute unsere demokratisch gewählten Volksvertreter beschimpfen.

Der Mut dieser Leipziger Menschen von 1989 ist ein historisches Vermächtnis an die Bundesrepublik.

Denn von diesem Mut getragen siegte am 9. Oktober der Idealismus der DDR-Bürger gegen den Zynismus der Diktatur.

Es war vielleicht der erste große Moment der Vereinigung. Denn im Protest waren sie alle vereinigt: Intellektuelle und Umweltschützer, Reformsozialisten und Kirchenaktivisten, Gewerkschafter und Schriftsteller, Musiker und Pfarrer, einfache Bürger und Arbeiter. Ganze Familien zogen durch die Straßen, von Eltern mit Kinderwagen bis hin zur Großmutter.

Was sie wollten war ein Wandel, und welch gewaltigen Wandel sie auslösen würden, das ahnten diese Menschen wohl selbst noch nicht. Denn in Leipzig manifestierte sich eine Bewegung, die sich nicht mehr aufhalten lies und die schließlich mit dem Fall der Mauer am 9. November ihren vorläufigen Höhepunkt fand.

Joachim Gauck beschrieb diesen Moment in seiner Rede hier vor zwei Jahren wie folgt: „Ich sehe es vor mir wie heute, es war magisch, und es war ganz irdisch zugleich - unendlich viele Träume hatten sich erfüllt. Und für unendlich viele von uns, da war es einfach nur - Glück.“ Aber vergessen wir nicht: Das Jahr 1989 war nicht nur das Glücksjahr der Deutschen. Es war ein europäisches Jahr.

In Polen, hatte die Solidarnosc seit 1980 für Freiheit, Bürgerrechte und gerechte Wahlen gekämpft. Und als Lech Walesa und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter am 4. Juni nun endlich legal an freien Wahlen teilnehmen durften, da gewannen sie fast 100%.

In der Tschechoslowakei, schaffte die Bürgerbewegung, die spätestens mit der Charta 77 einen Symbolträger erhalten hatte den Durchbruch. Die Samtene Revolution nahm in Prag mit den Demonstrationen auf dem Wenzelsplatz ihren Lauf und der Ruf „Havel auf die Burg“ wurde am 29. Dezember Wirklichkeit.

In Ungarn, wo Imre Nagy endlich sein Staatsbegräbnis bekam und Außenminister Gyula Horn live im Fernsehen den Grenzzaun zu Österreich durchschnitt und mehr als 30,000 DDR-Flüchtlingen Reisefreiheit gewährte.

Und auch in Rumänien, wo kurz vor Weihnachten Ceaușescu gestürzt wurde. Und um Solidarität mit den Rumänen zu zeigen versammelten sich die Menschen wieder hier in Leipzig. Diesmal hieß der Slogan „es hätte auch uns passieren können“. Und es hätte auch hier passieren können was in Rumänien geschah, nämlich dass mehr als 1,000 Menschen ihr Leben verloren und mehr als 3,000 verletzt wurden.

1989 war ein europäisches Jahr, ein Jahr der Europäer. Auf die Bemerkung, dass Ungarn nun unter zwei deutschen Staaten den Westdeutschen Staat gewählt hatte sagte Gyula Horn als er den Stacheldraht durchtrennte: „nein [wir wählen nicht dieBundesrepublik], wir wählen Europa“. Denn das war es worum es hier ging: „die Rückkehr zu Europa“. Wie der große Historiker Tony Judt schreibt "'Das Gegenteil von Kommunismus war nicht "Kapitalismus", sondern "Europa".

Und Europa, das stand symbolisch für Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität, Wohlstand und Schutz.

Diese Rückkehr zu Europa konnte nur mit der Vereinigung vollendet werden. Für Deutschland wurde diese schon im Jahre 1990 Realität: ein vereintes Deutschland in einem vereinten Europa. Wieder durch den Willen der Bürger, von denen unglaubliche 93,4% 1990 bei der ersten freien Wahl im Osten zu den Wahlurnen strömten, und die mit ihrer Stimme die Wiedervereinigung wählten. Und auch dank eines weisen Staatsmannes – Michail Gorbatschow - wurde dieses Wunder möglich.

Doch so wirklich fand das was im Jahre 1989 begonnen worden war erst 15 Jahre später mit der EU-Osterweiterung seine Vollendung. Und so wuchs auch endlich in Europa zusammen was zusammen gehört. Endlich kehrten die mittel-und osteuropäischen Völker in die europäische Familie zurück.

Was damals in diesem europäischen Jahr so wunderbar war, war das alles auf einmal so klar erschien. Richtig und falsch waren greifbar durch den simplen Gegensatz: frei oder unfrei. Und die Menschen in Europa wussten für welche Seite sie sich entscheiden wollten. Vielleicht war es das letzte Mal, dass es diese Gewissheit in Europa geben sollte. Denn damals da glänzte sie noch, die Vision von einem vereinten Europa als alleinige Garantie für diese Freiheit, und für Sicherheit, für Wohlstand und für Rechtsstaatlichkeit.

Diese Gewissheit war stärker als die Ängste die damals die Vorstellung von einem wiedervereinten und wiedererstarkten Deutschland noch immer auslöste:

  • die Vereinigung der militärischen Stärke der zwei deutschen Teilstaaten;
  • der vorhersehbare Aufstieg zur wirtschaftlichen Supermacht;
  • das neue Selbstbewusstsein einer wiedervereinten Nation.

Man muss sich nur einmal die Protokolle der damaligen britischen Regierung durchlesen um zu verstehen, welche Beklemmung diese Vorstellung bei den Menschen in unseren Nachbarstaaten auslöste.

Aber erneut waren es mutige Persönlichkeiten wie Kohl, Mitterand, Delors, und selbst Thatcher die diese Ängste überwanden und bereit waren einen Staatenverbund anzustreben, in dem ein vereintes Deutschland sich durch die Änderung seines Grundgesetzes verpflichtet, für die europäische Integration zu arbeiten.

Auch dieser Mut und diese Verpflichtung sind historische Vermächtnisse unserer Nachbarn an die Bundesrepublik.

Den Menschen in Europa, den Bürgern und Politikern war in dieser Zeit bewusst, dass Europa etwas ist für das es sich zu kämpfen lohnt. Dies war eine starke Gewissheit in einer Zeit der Ungewissheit, einer Zeit in der für viele Menschen das alte System zu bröckeln begann und sie eigentlich den Halt hätten verlieren müssen. Doch die Rückbesinnung auf die fundamentalsten Grundwerte gar Orientierung.

Und sie gab auch Kraft für die schwere Arbeit, die noch in den darauffolgenden Jahren von den Menschen geleistet werden musste. Denn Demokratie erstreiten ist eine tugendhafte Tat, doch Demokratie im täglichen Leben zu verteidigen und zu beschützen ist eine mindestens ebenso schwere, manchmal ermüdende Aufgabe. Und die Vereinigung eines Landes zu fordern ist der erste Schritt, aber ein Land zu vereinen ist jahrelange und harte Arbeit. Vor allem wenn es sich bei den zu vereinenden Teilen um Länder handelt, welche fast vier Jahrzehnte völlig verschiedene Erfahrungen gemacht haben, welche mit gegensätzlichen Systemen regiert wurden und welche dazu noch hermetisch voneinander abgeriegelt waren. Aber die Deutschen schafften es. Sie schafften die bruchartige Umgestaltung der Wirtschaft und sie schafften die Aufarbeitung der Verbrechen der SED.

Die Anpassungsleistung der Ostdeutschen war enorm, und dies möchte ich hier heute in Leipzig noch einmal würdigen.

Während meine Generation in Westdeutschland die Demokratie von unseren Müttern und Vätern als Geschenk in die Wiege gelegt bekam, haben meine Altersgenossen in Ostdeutschland die Demokratie mit ihrem Mut und ihrem Engagement erstritten. Erst hierdurch wurden die deutsche und später die europäische Vereinigung möglich.

Vor dieser historischen Leistung habe ich Hochachtung und ich möchte daher heute auch ganz persönlich dafür „Danke“ sagen.

Wir leben heute wieder in einer Zeit der Ungewissheit, einer Zeit in der alte Sicherheiten und Strukturen bröckeln, so wie es damals das brüchige Fundament der Sowjetunion tat.

  • Globale Finanzkrisen
  • Ungerechte Reichtumsverteilung
  • Steuerskandale
  • Überforderung im Angesicht der Flüchtlingskrise
  • Terrorismus, der in unserer Mitte unschuldige Menschen trifft
  • Kriege, die entweder näher an uns heranrücken, oder deren Gräuel uns an der Menschheit Zweifeln lassen

Unsere heutige Welt wird von Phänomenen beherrscht, die komplex sind, die oft global sind und sich daher scheinbar jeglicher Kontrolle entziehen.

Im Angesicht dieser schier nicht zu bewältigenden Komplexität und Ungewissheit ist in den Köpfen der Menschen das Gefühl gewachsen, dass die bestehenden Strukturen den neuen Herausforderungen nicht gewachsen sind. In dieser neuen Zeit ist das Europa, das nach dem Fall der Berliner Mauer entstanden ist nicht mehr das Hoffnungsbild, welches die Demonstranten im Jahr 1989 in ihren Köpfen trugen.

Wo sollen wir also die Lösung suchen?

Manche suchen die Lösung in der Vergangenheit. Und ich verstehe den Gedanken in der Vergangenheit zu suchen, um Orientierung für die Zukunft zu finden, ich finde ihn sogar richtig und wichtig. Nur wenn wir von den Erfahrungen unserer Vorfahren lernen haben wir eine Chance es besser zu machen.

Aber dieser Blick in die Vergangenheit darf nicht zu nostalgischer Verklärung verkommen auch wenn wir uns alle manchmal ein bisschen mehr Einfachheit zurückwünschen.

Denn wenn Gotteshäuser in Deutschland brennen und Ordnungskräfte und Politiker angegriffen werden, dann ist unsere Demokratie in Gefahr. Genau die Demokratie, für die die Massen 1989 mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ protestierten und die ein Resultat eines langen, mühevollen Freiheitskampfes in ganz Europa war.

Hier in Leipzig kann uns Geschichte lehren wie man in Zeiten der Veränderung und des Umschwungs Orientierung finden kann. Denn als die Menschen damals in Leipzig marschierten, auch da war die Zukunft ungewiss und die Herausforderungen der Zeit enorm. Dass Veränderung bevorstand, das war den Leipzigern klar. Wie genau die Zukunft aussehen sollte, das wussten sie nicht. Doch was sie wussten war, dass sie keine andere Zukunft akzeptieren würden als eine solche, welche ihnen ihre Grundwerte von Freiheit und Gerechtigkeit garantieren würde. Freiheit und Gerechtigkeit, das war alles was die Menschen forderten. Und für diese Werte standen sie in Solidarität zusammen.

Die Leipziger dieser Zeit lehnten sich nicht zurück und ließen den Wandel über sich ergehen. Auch träumten sie sich nicht in eine Zeit des Kurfürsten August zurück. Nein, die Leipziger entschieden sich ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen undgeschlossen für Demokratie zu streiten. Und dies, liebe Damen und Herren, dies muss heute in Zeiten in denen unsere Demokratien herausgefordert werden unsere Richtschnur sein.

Und ich bin davon überzeugt, dass es in Deutschland eine große Mehrheit gibt die genauso denkt. Deutschland ist schon lange nicht mehr wie Weimar eine Demokratie mit nur wenigen Demokraten. Unser Land ist eine stolze Demokratie voll von stolzen Demokraten. Und dies gilt für die gesamte Republik.

Wir dürfen uns dieses Bild nicht von medial sehr präsenten Splittergruppen verzerren lassen. Wie es die heute auch anwesenden deutsche Ostbeauftrage Iris Gleicke kürzlich sagte: „Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem.“ Ich möchte mich hier einhaken: in unserem vereinten Deutschland muss das Ostdeutschen-Bashing endlich ein Ende haben!

Aber was Frau Gleicke auch sagte war - und ich beziehe dies nun bewusst auf unser ganzes Land - das „wir Deutschen es selbst in der Hand haben ob wir unsere Städte und Dörfer beschützen oder ob wir sie dem braunen Spuk überlassen. Die Gesellschaft darf nicht wegschauen, wenn Menschen angegriffen oder Flüchtlingsunterkünfte angezündet werden. Es steht für Deutschland viel auf dem Spiel.“

Und genau deshalb ist Leipzig für uns als Erinnerungsort so wichtig.

Denn Leipzig muss erinnern, Jahr um Jahr, und landesweit. Daran das der Mut der Leipziger die Wurzel unserer demokratisch vereinten Bundesrepublik darstellt, daran, dass dieser Mut nur durch europäische Solidarität möglich war. Hier in Leipzig müssen wir daher Jahr um Jahr die Walesas, die Havels, die Nagys und die Bohleys dieses Jahres 1989 feiern. Und auch vielen Schumans, die Adenauers, de Gaulles und Brandts, die die Vereinigung Deutschlands in einem vereinten Europa ermöglichten. Und auch die Horns, die Gorbatschows und Kohls die den Leipziger Mut 1989 belohnten. Und all die Menschen die diesen Mut nach einer demokratischeren Gesellschaft zu streben auch heute noch zeigen, wie Can Dündar, den ich hier im Publikum sehe, und seinen Kollegen Herrn Erdem Gül der nicht zuuns reisen durfte. Herr Dündar, herzlichen Glückwunsch für den alternativen Nobelpreis der Cumhuriyet!

Wir müssen uns als ganze Nation, ja als ganzer Kontinent daran erinnern, dass Europa im Jahre 1989 zum zweiten Mal gegründet wurde. Diesmal nicht als geopolitischer Schachzug, diesmal nicht als wirtschaftliche Wertgemeinschaft, sondern diesmal als Projekt der Menschen Europas, als Wertegemeinschaft entstanden aus dem Mut und der Solidarität der europäischen Völker.

Und wenn wir uns stets an dies erinnern, dann werden wir auch die Grundwerte unserer Gemeinschaft, die wir heute oft als allzu gegeben und selbstverständlich ansehen, wieder besser schätzen lernen. Und dann - da bin ich mir ganz sicher - dann werden uns diese Grundwerte auch Orientierung in Zeiten der Orientierungslosigkeit geben.

Und genau deshalb ist es so wichtig, dass wir heute zusammen siebenundzwanzig Jahre zurückgeblickt haben.

Und genau deshalb ist diese große tausendjährige Stadt Leipzig so wichtig und muss dies auch bleiben, ein Ort deutscher und europäischer Erinnerung.

Der Erinnerung daran, dass eine starke und mutige Gemeinschaft, in der nicht jeder jede Meinung teilt, aber in der alle unverrückbar an den Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Humanität festhalten, die beste Möglichkeit ist in unsicheren Zeiten die Zukunft anzugehen und sie erfolgreich zu meistern.

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