Burkhard Jung:

Meine Damen und Herren,
ich darf Sie alle hier im Gewandhaus der Stadt Leipzig, an diesem für den 9. Oktober 1989 so zentralen Ort, herzlich willkommen heißen.

Gemeinsam wollen wir heute all die Menschen ehren, deren Mut und Kraft im Herbst 1989 eine neue, eine demokratische Gesellschaft ermöglichten. Ohne sie wäre der heutige Tag undenkbar, ohne sie das Gesicht Europas heute ein anderes. Dies ist der Grund, warum der Landtagspräsident des Freistaates Sachsen, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen und die Stadt Leipzig zu diesem Festakt zum 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution geladen haben.

Meine Damen und Herren,
es ist ein bedeutsames politisches Zeichen, dass die höchsten Repräsentanten unserer Republik durch ihre Anwesenheit der Friedlichen Revolution gegenüber ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen. Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ein herzliches Willkommen hier in Leipzig!

Ich begrüße im Namen der Stadt Leipzig alle anwesenden Repräsentanten der Bürgerrechtsgruppen und der Opferverbände. Ebenso herzlich begrüße ich alle Vertreter unserer demokratischen Ordnung aus Legislative, Exekutive und Judikative. Mein Gruß geht an alle Botschafter sowie die zahlreichen Gäste aus dem Ausland und der gesamten Bundesrepublik Deutschland, die heute unter uns weilen. Leipzig heißt Sie alle auf das Herzlichste willkommen!

Werte Festversammlung,
uns Deutschen hat das 20. Jahrhundert wenig Anlass für demokratische Feierstunden geliefert. Gerade heute ist daran zu erinnern, dass die Demokratie in Deutschland über lange Zeiträume nicht mehrheitsfähig, ja verpönt war. Gerade deshalb dürfen wir am heutigen Tag allen Grund zur Freude haben. Denn wir feiern mit diesem Festakt die erste gewaltfreie und gelungene Revolution in der deutschen Geschichte.
Die Zukunft wird zeigen, ob sich dieses Datum im Bewusstsein der Völker in die Reihe der großen englischen, amerikanischen und französischen Freiheitsereignisse eingliedern wird. Wir können allemal selbstbewusst sagen: Dieser 9. Oktober 1989 hat die Verhältnisse im Osten Deutschlands unwiderruflich in Bewegung gesetzt. An diesem Tag wurde in Leipzig Geschichte geschrieben. Danach war alles anders.

Die friedliche Demonstration von 70.000 Menschen in Leipzig und vielen Orten der DDR, die an diesem 9. Oktober 1989 stattfand, brachte die Entscheidung. Die Diktatur unterlag dem Willen mutiger Menschen, denen es gelang, ihre Angst zu überwinden und den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Leipzig besitzt damit eine Schlüsselrolle für den Verlauf der Friedlichen Revolution. Dabei – lassen Sie es mich an dieser Stelle deutlich sagen – maßen wir uns keine Alleinvertretung an. In vielen Städten und Gemeinden, in Plauen und Dresden, in Rostock oder Schwerin nahmen die Dinge einen ähnlichen Verlauf. Überall zeigten sich der gleiche Freimut, die gleiche Entschlossenheit, staatlicher Gewaltandrohung zu trotzen. Der urdemokratische Ruf "Wir sind das Volk!" war überall zu hören. In ihrer Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit erzwangen diese Demonstrationen die Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989.

Meine Damen und Herren,
lassen Sie mich einen zweiten wichtigen Gedanken anschließen. Diese Revolution war das Werk der vielen Unbekannten und Namenlosen, der einfachen Leute. Es war ein Aufbegehren von unten, geboren aus dem Willen, diktatorische Herrschaft nicht länger zu ertragen, und getragen von der Absicht, sein Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Diese Revolution brauchte keine Prominenten, keine Avantgarde, keine Wortführer. Es ist ein einmaliger Vorgang in der deutschen Geschichte, dass sich die Bevölkerung als Gemeinschaft mündiger Bürger mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" zum Souverän ermächtigte.

Meine Damen und Herren,
wir feiern in diesem Jahr 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre Friedliche Revolution. Diese Daten verweisen aufeinander und begründen für das 21. Jahrhundert eine gemeinsame Geschichte aller Deutschen. Gleichzeitig sind sie unser Beitrag zu einem entstehenden europäischen Geschichtsbewusstsein.
20 Jahre nach der Friedlichen Revolution darf der Stolz der Ostdeutschen auf die Überwindung der Diktatur nicht verschüttet werden. Es gilt, ihn stets neu zu beleben. So könnte er als Gegengift zu einer unwahrhaftigen Vergangenheitsverhaftung und grassierenden Politikverdrossenheit wirken. Mut und Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Engagement für das Gemeinwohl besitzen nicht nur unter der scheinbar ausweglosen Situation einer Diktatur ihre Berechtigung. Nein: Für die Demokratie sind mündige, kritische und selbstbewusste Bürger eine Grundbedingung ihrer politischen Existenz.

Meine Damen und Herren,
die Kraft zur Erinnerung lebt von ihrer Vergegenwärtigung. Wir wollen die Friedliche Revolution nicht als ein monumentales Denkmal einbalsamieren. Der deutsche Philosoph Friedrich Schlegel hat die berühmte Formulierung vom Historiker als dem „rückwärtsgewandten Propheten“ geprägt. So ist es. Die Geschichte ist nicht tot, sie steckt in uns allen. Die historische Erinnerung darf kein Ruhekissen sein. Sie ist ein Auftrag für unser Handeln in Gegenwart und Zukunft.

Es gilt das gesprochene Wort.

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